Spielfilm von Sergei Bondartschuk, mit Sergei Bondartschuk u.a.
UdSSR 1967, DCP, Ru/d, 92', ab 12 Jahren
Ein Höhepunkt filmischen Grössenwahns ist neu digital restauriert im Kino zu entdecken: Das vierteilige sowjetische Filmmeisterwerk «Krieg und Frieden» von Sergei Bondartschuk ist die wohl aufwendigste Filmproduktion aller Zeiten. Rund sieben Stunden dauert die detailgetreue, epochale Tolstoi-Verfilmung. Die Dreharbeiten der teuersten Filmproduktion der Sowjetunion, die Sergei Bondartschuk als Regisseur, Autor und Hauptdarsteller verantwortete, dauerten von 1962 bis 1967.
Das Historienepos führt uns vom Kaiserpalast bis in die Bauernhütte und von den grossen europäischen Schlachtfeldern über eine weihnachtliche Schlittenfahrt bis ins brennende Moskau und erzählt uns dabei vom russischen Leben und der russischen Seele in all ihren Facetten. «Krieg und Frieden» gewann 1969 einen Golden Globe, einen Oscar für den besten fremdsprachigen Film und gilt bis heute als das grösste Filmepos aller Zeiten und die detailgetreueste Verfilmung von Tolstois Romanvorlage.
Teil 4
Napoleons Heere stehen nun vor Moskau. Kutusow gibt schweren Herzens den Befehl zum kampflosen Rückzug aus der Stadt. Die Rostows flüchten ebenfalls von ihrem Anwesen in Moskau und nehmen verwundete Soldaten mit, darunter auch den «unentdeckten» Fürst Andrej Bolkonski. Erst als er im Sterben liegt, erkennt Natascha ihn wieder und Andrej bestätigt ihr abermals die grosse Liebe. Pierre, der in Bauernkleidung Napoleon ermorden wollte, wird als Gefangener von der Grande Armée verschleppt, bis er von Partisanen befreit wird.
«Kunstundfilm» schreibt: «Die Verschränkung von Weltgeschichte und persönlichen Schicksalen gelingt im letzten Teil am überzeugendsten. (…) Was anfangs ein Kabinettskrieg zwischen Monarchen war, der reiche Adlige kaum betraf, wird im Lauf der Jahre zur Erhebung des gesamten Volkes, dessen Befreiung Kutusow am Ende beschwört: Nation Building dank Napoleon. (…) Mit Kamerafahrten von Kränen, an Seilbahnen oder Hubschraubern verlieh Regisseur Bondartschuk dem Geschehen eine nie zuvor gesehene Dynamik. Die Sequenzen im brennenden Moskau, an dessen Kulissen vier Monate lang gezimmert wurde, gehören zum Eindrucksvollsten, was je auf der Leinwand zu sehen war.»
Anmerkung Kino Cameo:
Mit Blick auf den aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine erhält Bondarchucks Epos eine neue Relevanz: Als Antwort auf King Vidors «War and Peace» von 1956 ist die russische Mammutproduktion laut der Filmhistorikerin Denise J. Youngblood nicht nur die beste Adaption von Tolstois Roman, sondern auch das wichtigste Artefakt des Kalten Krieges auf kultureller Ebene von russischer Seite. Entstanden ist der aufwändige Filme zwischen 1961 und 1967: Eine Zeitspanne, in der sich der Ost-West-Konflikt immer mehr verschärfte und es an der Spitze des kommunistischen Parteiapparates zum Wechsel von Nikita Sergejewitsch Chruschtschow zu Leonid Iljitsch Breschnew kam.
Nach Stalins Tod 1953 und unter Chruschtschow befand sich die russische Filmindustrie in einer Tauwetterperiode. Sanfte Kritik an sozialen und ökonomischen Problemen war erlaubt und Produktionen wie Mikhail Kalatozovs «Wenn die Kraniche ziehen» (1957) oder Andrei Tarkowskis «Iwans Kindheit» (1962) werfen direkt oder indirekt einen neuen, humanistischen Blick auf den Zweiten Weltkrieg und feierten auch international grosse Erfolge. Nach der Kubakrise wurde aber Breschnew 1964 Generalsekretär der kommunistischen Partei. Die Filmindustrie musste nun wieder stärker als direktes Organ der Regierung funktionieren und primär die nationale Stärke propagieren.
Wie Youngblood in ihrer Monografie über Bondarchucks Epos festhält, bewegt sich der Film im Spannungsfeld zwischen den gegensätzlichen politischen Dynamiken der 1960er Jahre in der Sowjetunion: «‹Krieg und Frieden› ist ein Beispiel für den Übergang des intimeren Kinos der Tauwetterzeit zum Monumentalismus vieler Filme der Breschnew-Ära. Die Adaption von Tolstois Roman zeigt damit konkret, wie der sowjetische Patriotismus während des Kalten Krieges konstruiert wurde».
In «Krieg und Frieden» manifestieren sich eindrücklich die damaligen Möglichkeiten der russischen Filmindustrie und das Talent Bondarchucks, der in über sieben Stunden dem Schriftsteller Leo Tolstoi und den historischen Begebenheiten Respekt zollt. Als Produkt der nationalen Propaganda bediente der Film aber auch erfolgreich Breschnews Wunsch nach einer Stärkung des Militärs und des Patriotismus in der einheimischen Kultur. Er verweist damit als historisches Dokument auf die ambivalenten Dynamiken des Kalten Krieges in der Sowjetunion, die bis heute nachwirken und gegenwärtig eine neue, tragische Aktualität entfalten.
Quelle: Youngblood, Denise J. (2014): Bondarchuck’s War and Peace. Literary Classic to Soviet Cinematic Epic. Lawrence: University Press of Kansas.